Herr Prof. Fricke, wie gefährlich ist eine Essstörung?
Die Anorexia nervosa ist eine Erkrankung die trotz Behandlung mit einer Mortalität von 10-15% eine relativ hohe Sterblichkeit unter den kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen aufweist, vergleichbar mit einer Akuten Lymphatischen Leukämie (ALL) im Kindesalter. Chronische Verläufe mit einer Einschränkung der Lebensqualität und Rückfälle nach einer Behandlung sind häufig. Circa Zweidrittel der Patientinnen und Patienten erleiden einen Rückfall und/oder die Erkrankung mündet in einen chronischen Verlauf. Die häufigsten Todesursachen sind Suizide und Infektionen.
Essstörungen sind kein neues Phänomen, wie hat sich die Erkrankung in den vergangenen Jahren entwickelt?
Aktuelle Daten zeigen, dass Essstörungen während der Pandemie häufiger zu Krankenhausaufenthalten geführt haben, die Gesamtzahl der Erkrankungen in Deutschland jedoch nicht gestiegen ist. Die Prävalenz (Anteil Erkrankter in der Population) wird auf 0,5–1,0 Prozent geschätzt. Durch die beschleunigte Entwicklung von Jugendlichen in Industriestaaten tritt die Erkrankung heute tendenziell in einem jüngeren Lebensalter auf.
Wie schätzen Sie die Versorgung von an einer Essstörung erkrankten Kindern und Jugendlichen in Deutschland ein?
Für die stationäre Versorgung von Essstörungen besteht ein Behandlungsangebot in praktisch allen Fachabteilungen und Fachkrankenhäusern für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Viele Tageskliniken bieten ebenfalls eine Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen an. Die ambulante Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen wird wesentlich durch Kinderärzte, Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche geleistet. Dieses Angebot wird durch psychiatrische Institutsambulanzen der Kliniken ergänzt. Ein speziell auf Essstörungen ausgerichtetes Versorgungsangebot auf mit spezifischen Konzepten oder auf Spezialstationen gibt es bisher nur in einzelnen Kliniken. Hier sehen sowohl die Fachgesellschaften und die Berufsverbände die Notwendigkeit für einen weiteren Aufbau von Behandlungsstrukturen zur spezifischen Versorgung von Essstörungen.
Wie gehen Sie bei der Behandlung einer Essstörung von Kindern und Jugendlichen grundsätzlich vor?
Am Anfang der Behandlung steht die Klärung und Stärkung der Motivation zur Behandlung. Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist das Erreichen eines Zielgewichts, das für die Patient:innen als auch ihre Familien nur mit einer entsprechenden Motivation erreicht werden kann. Zur Umsetzung des Gewichtsanstiegs erhalten die Patient:innen und ihre Familien eine Unterstützung zur Bewältigung der damit verbundenen Ängste, Zustände innerer Anspannung und eines gesteigerten Bewegungsdrangs. Dazu werden neben psychotherapeutischen und familientherapeutischen auch pharmakologische und diätische Interventionen durchgeführt, die durch spezialtherapeutische Verfahren wie Kunst- und Bewegungstherapie ergänzt werden. Essenziell für Behandlungserfolg ist neben der Etablierung eines ausreichenden Gewichts die Behandlung von häufig mit einer Essstörung verbundenen Begleitstörungen wie Angststörungen, Autismus und Persönlichkeitsstörungen.
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Wie hoch ist die Erfolgsquote in Ihrem Haus?
In unserer Klinik gibt es bislang kein spezielles Register zur Nachverfolgung von Essstörungen. Etwa 80 Prozent der Betroffenen erreichen innerhalb von 12 Monaten ihr Zielgewicht und können es dauerhaft halten.
Welche Rollen spielen die Eltern und das soziale Umfeld aus Ihrer Sicht?
Beide Faktoren haben in ihrer Beachtung eine sehr hohe Bedeutung für eine erfolgreiche Therapie und sollten deshalb in die Behandlung von Beginn an einbezogen werden. Trennungen der Patient:innen vom familiären System in der Behandlung sind selten sinnvoll.
Wie sollten sich Eltern idealerweise verhalten?
Eltern sollten sich klar hinter die Notwendigkeit der Gewichtszunahme und Wiederherstellung der Gesundheit ihres Kindes stellen und dazu beitragen, die entsprechende Motivation beim Kind zu erzeugen und aufrecht zu erhalten. Die Mitarbeit der Eltern ist essenziell für die erfolgreiche Therapie. Nach Möglichkeit sollten Eltern in der Behandlung eine gemeinsame Position zu therapeutischen Zielen erreichen und auch die Bereitschaft haben, im Rahmen von Hospitationen auf der Station aktiv an der Umsetzung der Ziele mitzuwirken wie z.B. durch Essensbegleitung.
Kennen Sie die FBT-Studie der Charité, nimmt ihr Haus an der Studie teil?
Mir bzw. uns ist das Pilotprojekt bekannt. Wir nehmen nicht teil, da eine Behandlung häufig über die in der Studie der Charité hinausgehende Elemente der Therapie, zum Beispiel zur Behandlung der begleitenden Störungen hinausgeht. Leider ist in der Planung des Projekts versäumt worden, durch einen frühzeitigen Einbezug anderer leistungsstarker Kliniken in der Versorgung eine breitere Basis für dieses Projekt zu schaffen. Wenn entsprechend nachgebessert wird, halte ich eine Teilnahme unserer Klinik bzw. des Versorgungsgebiets der Metropolregion Stuttgart am Projekt für möglich. Familientherapeutische Interventionen sind, wie in vielen Kliniken, bei uns Standard im therapeutischen Vorgehen.
Wie halten Sie von der familienbasierten Therapie (FBT) aus dem angelsächsischen Sprachraum?
Aufgrund der dort erhobenen Daten zur Umsetzbarkeit und Wirksamkeit der FBT kann diese Form der Therapie im Vergleich zu anderen etablierten Therapien als hoch wirksam eingeschätzt werden. Aus meiner Sicht könnte eine noch bessere Adaptation bzw. Anschlussfähigkeit der FBT an Sektoren übergreifende Formen der Versorgung von Patient:innen mit Essstörungen (ambulant, tagesklinisch und stationär) zu einer noch besseren Umsetzbarkeit der FBT im klinischen Alltag führen.
FBT stellt zunächst die Heilung des Körpers in den Vordergrund. Wie schätzen Sie dieses Vorgehen ein?
Es ist wissenschaftlich belegt, dass eine erfolgreiche psychotherapeutische Behandlung von Essstörungen nur möglich ist, wenn das Gewicht steigt und sich die körperlichen Funktionen normalisieren. Dieser Grundsatz wird in allen evidenzbasierten Behandlungskonzepten berücksichtigt, einschließlich der familienbasierten Therapie (FBT). Ich stimme dem zu, da es durch die wissenschaftlichen Daten gut belegt ist.
Professor Fricke, vielen Dank für das Gespräch.