Kurz vor der Pubertät beginnt sich etwas in Marie zu verändern. Ihre Hobbys machen ihr plötzlich keinen Spaß mehr. Kleine Dinge, die früher leichtfielen – ein Treffen mit Freunden, das Scrollen durch Social Media, der ganz normale Schulalltag – fühlen sich plötzlich schwer an. Alles wird zu viel. Alles wird zu eng. In ihr wächst eine Leere – und ein Drang, irgendwo wieder Kontrolle zu erlangen.
Unsere Arbeit unterstützen Sie stellt ihre Ernährung um und isst vegetarisch. Dann nimmt sie immer weniger zu sich. Irgendwann isst sie fast gar nichts mehr. Marie verliert viel Gewicht – und mit jedem Kilo scheint auch ein Stück Lebenskraft zu verschwinden. Wann genau die Essstörung begonnen hat, kann sie heute nicht mehr sagen. Aber sie erinnert sich genau an das plötzlich auftretende Gefühl: den Wunsch, wieder gesund zu werden, wieder sie selbst zu sein. Als ihr die familienbasierte Therapie (FBT) vorgeschlagen wird, zögert sie keine Sekunde. „Ich musste gar nicht lange nachdenken“, sagt sie heute. „Ich wusste, dass ich Hilfe brauche – und dass ich mich bei meinen Eltern am sichersten fühle.“„Ich wusste, dass ich Hilfe brauche – und dass ich mich bei meinen Eltern am sichersten fühle.“
Marie hat ihr Abitur nachgeholt und gilt zur Zeit als geheilt.
Die Diagnose:
Die Diagnose kommt – aber mit Verzögerung. Familie Müller sucht früh ärztliche Hilfe. Doch zunächst erkennt niemand, dass eine Essstörung vorliegt. „Bis wir eine klare Diagnose hatten, vergingen viele Monate“, erinnert sich Mutter Carla. „Die Signale wurden einfach nicht erkannt.“ Sophies Gewichtsverlust, ihre Rückzüge, die psychischen Veränderungen – sie waren da, deutlich. Trotzdem zieht niemand sofort die Verbindung zu Anorexia nervosa.
Vater Jan beschreibt die Zeit nach der Diagnose: „Wir hatten so viele Termine an so vielen Stellen. Aber keiner hatte den Überblick. Und wir – wir sind ja nur Eltern, keine Fachleute.“ Damals fühlte sich alles an wie ein Strudel. „Unsere Tochter erhielt unterschiedliche Hilfsangebote – von ambulanter Psychotherapie bis zur Notfallversorgung in der Rettungsstelle. Trotzdem ging es ihr immer schlechter.“
Verlauf der FBT-Therapie:
Familie Müller erfährt von der familienbasierten Therapie (FBT) und kann sie auch in Anspruch nehmen. Die ganze Familie macht mit – unter professioneller Begleitung lernen sie, wie sie Marie beim Essen helfen können: mit Worten, Gesten, Ritualen. Alles ist darauf ausgerichtet, dass sie wieder zu Kräften kommt. „Für mich war Essen mit anderen, ob zu Hause oder draußen, undenkbar geworden“, erzählt Marie. „Die Krankheit hat mich in so vielen Lebensbereichen eingeschränkt. Ich wollte das nicht mehr. Ich wollte mein Leben zurück.“
Marie nimmt gemeinsam mit ihren Eltern und Brüdern – zu Hause, in vertrauter Umgebung – den Kampf gegen die Krankheit auf. Die Schule pausiert, Social Media bleibt aus. Ihr Tag dreht sich nun ums Gesundwerden: ums Aushalten, ums Vertrauen, ums Loslassen. Mahlzeiten werden zu Übungsfeldern. Sie lernt, wieder zu essen – nicht nur, um zu überleben, sondern um zu genießen und um sich beim Essen wieder zu verbinden: mit sich selbst und mit ihrer Familie.
Wie funktioniert FBT zu Hause? Marie erinnert sich: „Es gab sehr viele schwere Momente. Aber mit der Hilfe meiner Eltern und Brüder habe ich mich getraut, meine Angst zu überwinden und zu essen – mit ihnen, für sie, für mich, mit Lebensmitteln, die ich lange gemieden hatte.“
Die Familie richtet ihren Alltag neu aus. Vier gemeinsame Mahlzeiten am Tag werden zur Priorität. Vater Jan: „Wir wurden mit vielen Informationen versorgt – über die zentrale Bedeutung der Gewichtsnormalisierung, den teilweise hohen Energiebedarf, Gewichtskurven, Zielwerte. Aber wie wir das im Alltag umsetzen, lag bei uns. Und das war gut so – denn wir kennen Sophie am besten.“
Die Familie erfährt, dass sechs Mahlzeiten in dieser Phase ideal wären – zu viel für Sophie. Also entwickeln die Eltern kreative Wege, die Mahlzeiten möglichst energiedicht zu gestalten.
Gab es Momente, in denen die Familie gezweifelt hat? „Ja“, sagt Peter Müller. „Wir sind oft an unsere Grenzen gekommen.“ Seine Frau ergänzt: „Natürlich war es hart. Aber wir wussten: Nur zusammen geht es.“ Auch an schweren Tagen blieb das Ziel klar: „Wir finden gemeinsam einen Weg.“ Mutter Carla erinnert sich: „In der Unterernährung passieren Dinge, auf die dich niemand vorbereitet. Wenn Sophie sich nicht mehr äußern konnte, weil die Angst zu groß war, haben wir nach Wegen gesucht, sie zurückzuholen – Eiswürfel an die Stirn halten, zum Beispiel. Das hat oft geholfen und sie geerdet.“
Auf die Frage, was ihr am meisten geholfen hat, sagt Sophie ohne Zögern: „Nähe. Zuwendung. Warme Worte. Oder einfach eine Umarmung. Das hat mir Sicherheit gegeben. Und mir immer wieder vor Augen zu halten, wofür ich kämpfe: um mein eigenständiges, von der Krankheit befreites Leben.“
Anorexia nervosa ist eine schwere Krankheit.
Heute, 2025, ist Marie 18 Jahre alt und lebt bei ihren Eltern. Gerade hat sie ihr Abitur nachgeholt. Die Krankheit? „Sie ist seit der Abizeit wieder stärker da“, sagt sie offen. Stress ist ein Trigger – wie bei allen psychischen Erkrankungen. Marie weiß damit umzugehen: „Heute habe ich keine Angst mehr. Ich weiß, was zu tun ist. Und ich weiß: Ich bin nicht allein. Meine Familie ist da. Immer.“
Viele Familien geben ihr einen Namen – um klarer zu sehen, mit wem sie es zu tun haben. Die Müllers nennen sie vielsagend nach einer der bekanntesten und komplexesten Horrorgestalten der modernen Literatur: „ES“.